Wer hat Recht?
Wer hat Recht?
Ein interaktiver und spannender Vortrag von Dr. Gero Kellermann anlässlich des 75jährigen Bestehens unseres Grundgesetzes
Dieses Mal erwartete Dr. Gero Kellermann ein anderes Publikum als das, welches er von der Politischen Akademie Tutzing gewöhnt ist. Es waren nicht die Wissenschaftler*innen, Politiker*innen, Studierenden, Lehrkräfte und bildungshungrigen Erwachsenen, die vor ihm saßen, nein, es waren die neugierigen Schüler*innen der Klassen 10 a und b unserer Wilhelm-Röntgen-Realschule, die gerade erst einmal ein gutes halbes Jahr das Fach Politik und Gesellschaft hatten und sich auf jede Abwechslung zum normalen Unterrichtsgeschehen freuen. Wir waren also alle richtig aufgeregt und glücklich zugleich, als Dr. Kellermann am Mittwoch, den 17.04.2024 nachmittags das Klassenzimmer betrat.
Dr. Gero Kellermann ist in Hannover geboren, hat Jura studiert und dieses Studium mit einer Promotion, für die er den Fakultätspreis bekam, abgeschlossen. Das war aber noch nicht alles: Ein Zweitstudium in Philosophie und Politischer Wissenschaft beendete er mit dem Titel des Magister Artium. Seit 2007 ist Dr. Gero Kellermann in der Politischen Akademie Tutzing tätig, die traumhaft schön am Starnberger See liegt. Die Politische Akademie Tutzing ist parteipolitisch unabhängig und bietet für viele Interessierte unvergessliche Fortbildungstage.
Dr. Gero Kellermann widmet sich in seinen Veröffentlichungen und Seminaren an der Akademie dem Staats- und Verfassungsrecht sowie der Rechtspolitik auf nationaler und supranationaler Ebene. Es geht ihm immer darum, das Recht in Bezug zu Gesellschaft und Politik auf einer breiten Ebene zu verdeutlichen. Themen wie Europa, neue Technologien, Migration, Integration, Asyl oder Kommunalpolitik bieten dazu herausfordernde und hochinteressante Tätigkeitsfelder.
Wie weckt man nun bei den Jugendlichen, die über vieles, aber bestimmt kein breites Fachwissen zum Grundgesetz verfügen, Interesse und vielleicht sogar Begeisterung?
Dr. Kellermann gelang es, in dem er bei den liebsten Freizeitbeschäftigungen unserer Schüler*innen anknüpfte: Sport und Computerspiel. Mit dem Grundgesetz, so Dr. Kellermann, verhält es sich ähnlich wie beim Spiel. Im Sport, aber auch bei Gesellschafts- oder Computerspielen gibt es Regeln, die jeder kennt, obwohl man sich diese vor keinem Spiel nochmals explizit durchliest. Diese Regeln sind quasi unsichtbar, aber jedem präsent und klar, wie eine zweite Haut, die man trägt. Nicht nur Spiele funktionieren nach bestimmten Grundregeln, die einzuhalten sind, auch das Zusammenleben in der Gesellschaft braucht einen Regelkatalog, der von moralischen, religiösen oder säkularen Rechtsmaßstäben gespeist wird. Bei Regelverletzungen drohen Sanktionen, die auf gesellschaftlicher Ebene von unabhängigen Gerichten ausgesprochen werden. Der Staat sichert die Durchsetzung des Rechts.
Blättert man im Grundgesetz, so fallen einem inhaltlich die Bestimmungen zur politischen Organisation und gleich zu Beginn die Grundrechte auf, deren Vorbild die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist. Dr. Gero Kellermann blickte gemeinsam mit den Schüler*innen kurz auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes: Die vorbereitenden Überlegungen einer Gruppe von Staatsrechtlern im Augustiner-Chorherrenstift auf Herrenchiemsee in den ersten beiden Augustwochen 1948, anschließend die hitzige Diskussion dieser Vorlage durch den Parlamentarischen Rat in Bonn mit vier Frauen und Konrad Adenauer als Präsidenten. Am 23. Mai 1949 konnte das Grundgesetz von Konrad Adenauer nach intensivster gemeinsamer Arbeit und manchmal drohendem Scheitern feierlich unterzeichnet werden. Damit, so Adenauer, „schrieb die Bundesrepublik Deutschland Geschichte“.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe ist die Hüterin unseres Grundgesetzes. Dieses oberste Gericht erfüllt ihren Auftrag perfekt und passt, wenn es durch eine Klage angerufen wird, durch seine Rechtsprechung das Recht den jeweils aktuellen Verhältnissen an und schafft in umstrittenen Fragen Klarheit.
Das Grundgesetz beginnt mit Artikel 1, dem Schutz der Menschenwürde. Den Verfassungsvätern – und vier Verfassungsmüttern war dies wichtig – vor allem nach den unfassbar grauenvollen Erfahrungen während der furchtbaren Nazi-Diktatur. Solch ein menschenverachtendes Regime durfte es nie wieder geben. In Absatz 1 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. In Absatz 2: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Aber was bedeutet „Würde“? Auf diese Frage von Dr. Kellermann versuchten die Schüler*innen Antworten zu finden, doch so einfach war das nicht. Man trug verschiedene Assoziationen zusammen: „Würde“ – sie gilt für jeden Menschen, ist universell, hat etwas mit Moral zu tun, mit dem Wert, dem Ansehen, der Ehre jeder einzelnen Person, ja und schließlich ist es auch ein Rechtsbegriff. Würde kann durch staatliche Eingriffe angetastet und verletzt werden. Artikel 1 wird gemeinhin als ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat verstanden, jeder hat das Recht, sein Recht auch einzuklagen.
Dr. Gero Kellermann konzentrierte sich auf diesen Artikel 1 und verdeutlichte seine Komplexität und die Rechtsprechung an höchst spannenden juristischen Streitfällen.
Zum Beispiel: Darf einem Patienten, der das nicht will, Blut abgenommen werden, um einem anderen Patienten das Leben zu retten? Hier kollidiert das Recht auf Leben mit dem Recht auf Menschenwürde, auf körperliche Unversehrtheit. Den Menschen als „Ersatzteillager“ zu betrachten ist mit der Menschenwürde nicht vereinbar.
Oder: Darf die Polizei einen Alkoholtest gegen den Willen eines auffälligen Verkehrsteilnehmers durchführen? Die Sicherheit im Straßenverkehr liefert die Begründung für diesen Eingriff.
Oder: Darf ein Bergsteiger ein Seil kappen, wenn er damit sein eigenes Leben retten kann und in Kauf nehmen, dass nur der Partner, der abstürzt, stirbt? Und schließlich: Darf ein von Terroristen entführtes Flugzeug auf dem Anflug zum Beispiel in die vollbesetzte Allianzarena abgeschossen werden, um noch mehr Todesfälle zu verhindern? – Die Antwort lautet nein, denn jedes Menschenleben ist gleich viel wert. Hier wird nicht ge- und verrechnet.
Mit Artikel 1 als oberstem Grundsatz setzt unser Grundgesetz nicht nur ein pathetisches, sondern ein fundamentales Ausrufezeichen. Die Priorität der Unantastbarkeit der Menschenwürde haben viele verinnerlicht, es ist die staatliche Pflicht, diese zu achten und zu schützen. Kommt es zu einem Streitfall, so spricht das BVerfG nach einem formal und inhaltlich exakt durchdachtem Verfahren ein unwiderrufliches Urteil. Dass dieses wunderbare kleine Büchlein mit den knappen Prosasätzen, das sich Grundgesetz nennt, ein unverzichtbares und grandioses Meisterwerk ist, das haben die Schüler*innen dank Dr. Kellermann auf beeindruckende Weise verstanden.
Gleich im Anschluss an den Vortrag sprudelte es aus Lea, Obai und Gabrijel begeistert heraus: „Das war richtig spannend, einfach toll, dass uns Dr. Kellermann miteinbezogen hat und uns Fragen gestellt hat. Mit den vielen Beispielen aus dem Alltag konnten wir uns alles echt gut vorstellen und auch den Gedankengang nachvollziehen.“ Larissa ergänzte: „Ich fand’s richtig gut, dass er uns ausreden ließ, jede Antwort akzeptiert hat und es überhaupt keine falsche Antwort gab. So haben wir uns auch mehr getraut!“ Iwo fügte noch an: „Dadurch, dass wir immer aufgefordert waren mitzudenken, vor allem bei den lebensnahen, aber so kniffligen Beispielen, war es nie langweilig, sondern immer sehr, sehr spannend.“ Lea kommentierte: „Es war prima, dass Dr. Kellermann uns zum Nachdenken angeregt hat, ich habe vorher noch nie so intensiv über die Menschenwürde nachgedacht.“ Yannick und Raphael hoben auch noch das sehr sympathische Auftreten von Dr. Kellermann hervor: „Es war sehr angenehm, ihm zuzuhören, mitzudenken, er hat ein riesengroßes Fachwissen und hat das für uns ganz einfach, klar und verständlich erklärt. So sind wir gut mitgekommen und haben den ganzen Vortrag lang aufgepasst!“
Diesen vielen positiven Schüler*innenstimmen lässt sich kaum noch etwas hinzufügen. Vielen Dank, Herr Dr. Kellermann, dass Sie sich Zeit für uns in Neuperlach genommen haben, die Schüler*innen nicht nur fachlich beeindruckt, sondern ihnen persönlich so offen und positiv begegnet sind. Sie haben tatsächlich Spuren hinterlassen, bei jeder Schülerin und jedem Schüler – aber auch bei den Lehrkräften! So bleibt der Bildungsauftrag keine trockene Angelegenheit, sondern wird lebendig und macht Spaß! Wir freuen uns jetzt schon auf die nächsten Begegnungen mit Ihnen!
Maria Gerteisz, M.A.
Lehrerin für PuG und Französisch